Am 29. Juli 2019 stößt ein psychisch gestörter Mann am Frankfurter Bahnhof eine Mutter und ihren achtjährigen Sohn vor einen einfahrenden ICE. Am 28. Juli 2017 sticht ein Asylbewerber in einem Hamburger Supermarkt mit einem Messer auf Kunden ein. Ein Mensch stirbt, fünf werden ver letzt. Am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, versucht ein Rechtsextremist, die Synagoge in Halle zu stürmen und die versammelte Gemeinde zu erschie ßen. Als dies nicht gelingt, erschießt er eine Passantin und den Besucher eines türkischen Imbisses. Die Frage, die sich immer neu stellt: Wie lässt sich die Sicherheit vor Anschlägen und Gewaltkriminalität erhöhen? So hilft Technik, Gewalt einzudämmen Eine Technologie, die helfen kann, Gewaltkriminalität drastisch einzudämmen, bietet das FraunhoferInstitut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB mit der intelligenten Videoüberwachung. Während herkömmliche Videoüberwachung Probleme im Bereich Datenschutz hervor ruft und in der Bevölkerung meist auf wenig Akzeptanz stößt, lässt sich der Datenschutz hier technisch erzwingen. »Unser System unterscheidet selbstständig zwischen relevanten und irrelevanten Vorgängen bzw. Aktivitäten«, sagt Dr. Markus Müller, Leiter der Abteilung Videoüberwachungssysteme am Fraunhofer IOSB. Schlendert jemand mit seiner Einkaufstü te über den überwachten Platz oder spielen dort ein paar Kinder, so sieht die Einsatzkraft vor den Rechnern nur einen schwarzen Bildschirm oder ein pixeliges Bild, auf dem kaum etwas zu erkennen ist. Bemerkt das System jedoch einen Tritt oder Schlag oder einen anderen tätlichen Übergriff, schaltet es den Monitor ein und zieht den menschlichen Entschei dungsträger hinzu. »Das System agiert wie ein digitaler Schnüffelhund«, erläutert Müller. »Ein Schnüffelhund ist auf einen ganz bestimmten Geruch trainiert – nur wenn er diesen wahrnimmt, schlägt er an. Ähnlich funktioniert unser System: Es meldet sich nur bei tätlichen Übergriffen, alle anderen Verhaltensweisen sind ihm unbekannt.« Eine Meldung des Systems ist also ähnlich zu werten wie ein Anruf unter der 110. Doch woher weiß das System eigentlich, wann ein Angriff vorliegt und wann nicht? Dies haben die Forscherinnen und Forscher ihm über Künstliche Intelligenz beigebracht und optimieren diesen Lernvorgang. Sprich: Sie haben das System mit verschiedenen Videoaufzeichnungen von Schlägen, Tritten und Co. »gefüt tert«, mit jedem Video wird das System sicherer. Sicherheit am Bahnhof Die Entscheidungen jedoch trifft nach wie vor der Mensch. Schaltet das System etwa wegen einer Tritthypothese um auf ein Klarbild, kann er den Hinweis verwerfen, da ggf. harmlos, oder aber Maßnahmen einleiten, etwa eine Streife hinschi Fraunhofer. Das Magazin 4.19 - 57 cken. »Den ersten Schlag verhindern wir nicht, der soll als solcher erkannt werden. Aber eine weitere Fortsetzung, die Eskalation, der versuchte Totschlag oder gar der Totschlag könnte durch unmittelbare Erkennung des Übergriffs sowie rasche Intervention verhindert werden«, sagt Müller. In Mannheim setzt die Polizei das System im Rahmen eines Pilotprojekts für Experimente bereits ein – dort werden be stimmte KriminalitätsHotspots mit insgesamt rund 70 Kame ras überwacht, ihre Bilder sollen vom System parallel und in Echtzeit ausgewertet werden. Die Akzeptanz der Bevölkerung ist enorm: 80 bis 85 Prozent der Menschen befürworten das System. »Die Kriminalitätsrate sinkt, im Durchschnitt dauert es in den überwachten Gebieten nicht einmal zwei Minuten, bis die Einsatzkräfte an Ort und Stelle sind«, weiß Müller. An Bahnhöfen und Co. könnte das dortige Sicherheitsper sonal sogar innerhalb von Sekunden eingreifen. Wird der Wachdienst dort verständigt, dass jemand angegriffen wird, kann er über Lautsprecher direkt den Täter ansprechen: »Sie werden beobachtet, die Streife ist unterwegs. Unterlassen Sie die Angriffe!« Keine Frage: Vorfälle wie in Frankfurt lassen sich auch durch dieses System nicht verhindern, selbst direkt daneben stehende Polizisten hätten das Unglück wohl kaum abwenden können. Bei vielen anderen Situationen kann das System jedoch für deutlich mehr Sicherheit sorgen. »Es gab einmal eine Situation nachts in einer UBahnStation, in der verschiedene Täter einen Mann auf die Gleise gestoßen ha ben und ihn minutenlang nicht wieder hoch ließen. In einem solchen Fall könnten Einsatzkräfte mithilfe der intelligenten Videoüberwachung schnell eingreifen und die Fortsetzung von Straftaten verhindern«, ist sich Müller sicher. »Wir sehen uns im Dienste der Gesellschaft: Wir wollen mit unserer Technik solche Schrecklichkeiten verhin dern – oder zumindest die Eskalation des Schreckens«, sagt Müller. So könnte das System, trainiert mit den passenden Daten, auch Posen und Körperhaltungen erkennen, die für das Bereithalten oder Zielen mit einer Waffe typisch sind. Denn diese Körperhaltungen entscheiden sich genügend von »normalen« Körperpositionen. »Wir sind der Meinung, dass man besonders gefährdete Einrichtungen wie Synagogen bundesweit mit intelligenter Videoauswertung überwachen sollte. In Halle hätte man so, noch bevor der erste Schuss fiel, Einsatzkräfte losschicken können«, meint Müller. »Vielleicht hätte es dann keine Toten gegeben.« Schutz vor schmutzigen Bomben Der Gefahr schmutziger Bomben mit radioaktiven Stoffen be- gegnen Forscherinnen und Forscher des Fraunhofer-Instituts für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergono- mie FKIE mit einer Technologie, die sie im Projekt REHSTRAIN, kurz für »REsilience of the Franco-German High Speed »Das System agiert wie ein digitaler Schnüffelhund« Dr. Markus Müller, Fraunhofer IOSB